SYMBIOSOPHIE
Symbiose und Biosophie :

Der west-östliche Diwan philosophischer Praxis

Vortrag auf dem Kolloquium der Gesellschaft für Philosophische Praxis in Tübingen am 29. Oktober 1994

von Wolfgang Wackernagel

 

 

 

 

I. VORBEMERKUNGEN - DIE ABSICHT

Anfang der 1990 Jahre hatte ich mir die Frage gestellt, ob es denn möglich sei, die menschlichen und umweltbezogenen Aspekte unserer gegenwärtigen Lage durch einen einzigen, positiven und umfassenden gemeinsamen Nenner zu kennzeichnen. Man sollte doch eigentlich im Stande sein, die Bestrebungen und Ideale - ja sogar das Utopische unserer Zeit durch einen einzigen Begriff zusammenzufassen.

Nach einigen Monaten ging mir die Idee der Symbiosophie (oder "Weisheit des Zusammenlebens") auf. Nicht wie eine ganz fertige Lösung all unserer Probleme, sondern eher als eine Art virtuelle, poetische Phantasie. Wie ein sanfter und nicht allzu ernst zu nehmender Rausch, den zu verwirklichen mir unmöglich schien, der sich trotzdem auf die konkrete Wirklichkeit der Praxis als äusserst fruchtbar erweisen könnte. Bedarf es denn nicht manchmal, auf der Suche nach neuen Lösungen, des unsichtbaren Auges der Utopie?

Die Absicht dieses Vortrages besteht also nicht darin, ein dogmatisches System aufzustellen, sondern eher, auf eine unsystematische und etwas verspielte Weise, die vielleicht nicht immer ungefährlichen Möglichkeiten dieser poetischen Neuschöpfung als nicht ohne weitereres umzusetzende, jedoch zugleich für das Denken fruchtbare Utopie zu erforschen. - Und damit sollte dieser Vortrag auch als eine Herausforderung zur Erarbeitung virtueller Gegen-Utopien verstanden werden.

 

II. 1. DAS BILD

Am Anfang des achten Gesangs der Ilias, spricht Zeus folgende Worte :

"Nun versucht es doch, Götter, damit Ihr es alle erkundet: Senkt eine goldene Kette (seirè chruseiè) vom obersten Himmel hernieder, Hängt euch dann ziehend heran, ihr Göttinnen und Götter alle, Nimmer doch würdet ihr reißen vom Himmel zur Erde herunter Zeus, den erhabenen Lenker, so sehr ihr im Schweiße euch mühet. Wäre nun aber ich selber gesonnen, im Ernste zu ziehen, Samt der Erde und samt dem Meere riß ich euch aufwärts, Schlingen dann würd ich die Kette und binden sie um des Olympos Gipfel, und wiederum schwebte das All in den obersten Lüften. So übertreffe ja ich gewaltig Götter und Menschen."

Mit diesen Worten versucht Zeus den Streit unter den Göttern zu beenden. Er wird nicht verhindern können, dass die Menschen sich weiterhin bekriegen, und nicht einmal, dass die Götter die Menschen weiterhin dazu beraten werden, doch verhindert er, dass sie sich unmittelbar einmischen (bis auf ein paar Überschreitungen), und dass sich dabei der Krieg von der Erde bis hoch in den Himmel ausdehnt.

Diese Episode wurde seitdem von verschiedenen Weisen allegorisch gedeutet. Platon sieht im goldenen Seil eine Allegorie der Sonne (Theaitos, 153 C). Aristoteles findet darin eine mythische Andeutung seiner Lehre vom "Unbewegten Beweger" (De animalium motione, 4. 699 b 32). Die Stoiker sehen darin das Ineinandergreifen der vier Elemente, oder die Bahnen der Planeten. Eine Störung dieses ewigen Gleichgewichts könnte zum Austrocknen (Verwüstung) der Erde, und schliesslich zum Weltbrand führen: "(...) und Zeus wird nicht zur Erde gezogen, sondern die niederen Dinge werden hinaufsteigen duch den Triumph des Feuers." (1)

Doch der Ausdruck Aurea Catena Homeri findet sich zuerst bei einem Autor des IV Jahrhunderts, Ambrosius Theodosius Macrobius. Im XIV. Kapitel seines berühmten Kommentars zu Ciceros Somnium Scipionis, erklärt er bezüglich der Emanationsfolgen, dass eine ununterbrochene Verbindung (connexio) vom höchsten Gott bis zum "tiefsten Schlamm" (ultima faecem) des Universums bestehe, "und dies ist die goldene Kette Homers, die Gott vom Himmel bis zur Erde hängen liess".

Durch Macrobius und weitere Deutungen dieser Art (Emanation des Einen in die Vielheit - die Idee, dass jeder Mensch durch eine Goldene Kette mit seinem Gott verbunden ist - also eine Andachts- und Gebetsallegorie) wurde dieser Gedanke auch im Christentum übernommen und verbreitet. Seit der Renaissance hat sich die Deutung weitgehend esoterisiert, besonders durch alchemistische und theosophische Schriften - und auch im XX Jh findet man sie wieder - unter anderem bei C.G. Jung.

 

II. 2. SYMBIOSE UND BIOSOPHIE

Der Begriff Symbiose ist wohl bekannt. Man braucht also nur daran zu erinnern, dass er von dem deutschen Botanisten H. A. von Bari eingeführt wurde, um die Assoziation eines Pilzes und einer Alge in einem Flechtenorganismus zu beschreiben. Weiterhin diente das Wort unter anderem dazu, das durch lange Gewohnheit gegenseitig aufeinander abgestimmte Zusammenarbeiten und Miteinanderleben von Mensch und Haustier zu beschreiben. Darüber hinaus wurde dieser Begriff noch in den verschiedensten Bereichen übernommen.

Hingegen scheint Biosophie nach seinem ersten Entstehen bald in Vergessenheit geraten zu sein, wahrscheinlich, weil er durch den zur gleichen Zeit, um 1800, entstandenen Begriff der Biologie zurückgedrängt wurde. (Vgl. Burdach, Treviranus, Lamarck und Auguste Comte). Deshalb ist es notwendig, etwas mehr über den Ursprung der Biosophie einzugehen.

In Wien, im Jahre 1806 (bevor er unter anderem Beethoven behandeln wird), beendet der schweizer Arzt und Philosoph Ignaz Paul Vital Troxler ein kleines Büchlein mit dem Titel Elemente der Biosophie. Troxler stützt sich unter anderem auf die Naturphilosophie Schellings, dessen Schüler er von 1799 bis 1803 in Jena war. (2) In Anlehnung an Paracelsus meint er, die Philosophie sei nichts anderes als "die unsichtbare Natur": Naturkenntnis ist zuerst Selbsterkenntnis, als menschliche Natur, also Anthroposophie (auch dieser Begriff wurde zuerst duch Troxler eingeführt). Zur Einleitung in die Elemente der Biosophie (Weisheit des Lebens) schreibt er:

"Es haben in den jüngsten Tagen unter uns Viele vom Leben gesprochen und geschrieben.

Doch von den Wenigsten geschah es, glaube ich, aus Antrieb eines der geheimen Züge, welche zuweilen wie Einfluss von höherer Macht das Reich der Geister durchwehen; - diese aber gaben wirklich Zeugnis von dem Leben, und beleuchteten es von vielen Seiten.

Bei den meisten hingegen war es wohl nichts anders als Ausbruch dadurch erregter Nachahmungssucht und lüsternen Vorwitzes; - diese mit dem vielversprechenden Worte Jupiter und den Mist bezeichnend, wollen auf den eigentlichen Sinn erst pränumeriren, und führen nur von Neuem den Tod in das Leben.

Die eigentliche Bedeutung ward indessen überhaupt noch nicht gefunden, weil Leben selbst nur im Helldunkel von Schein und Seyn gesucht wurde - es aber das Unbekannte ist; welches nicht erscheint und nicht ist." (3)

 

II. 3. SYMBIOSOPHIE

Liest man die traditionellen Deutungen des Mythos der goldenen Kette, kann man feststellen, dass einige davon sehr aktuell sind, bzw., dass sie durch das gegenwärtige Zeitgeschehen fortwährend erneuert werden.

Das geschieht zum Beispiel mit der stoischen Allegorie des Weltenbrandes (Ekpyrôsis). Aber auch die Tatsache, dass die "Götter" (als Personifikation der elementaren Kräfte der Natur) nicht an den Kriegen der Menschen beteiligt werden sollten, spiegelt sich im gegenwärtigen Konsensus wider, wonach jegliche Verbreitung und Anwendung des Pluto(niums) verhindert werden sollte. Auch das familiäre Bild eines "Zeus", der als "Erwachsener" versucht, die Streitigkeiten der "Kinder" einzudämmen, findet zahlreiche Beispiele unter den täglichen Tragödien unserer Zeit.

Der wesentliche allegorische Inhalt dieses Bildes begründet sich in der gegenseitigen Abhängigkeit (Interdependenz) aller Dinge. So wie sie zum Beispiel auch im Kontext des Somnium Scipionis ausgedrückt worden ist, nämlich, dass "die Menschen dazu geboren sind, dass sie sich um diesen Globus, den Du inmitten des Tempels siehst, und welcher Erde genannt ist, kümmern." Dazu kommentiert Makrobius, dass "das Universum (die Welt) der Tempel Gottes genannt ist". Deshalb sollte der Mensch mit Andacht und Ergebenheit auf Erden walten - und wandeln wie ein Hierophant in geweihtem Heiligtume. Denn der Tempel Gottes ist nicht nur unser Körper, sondern auch die Erde, auf der wir leben.

Diese Idee beinhaltet eine gewisse neu- oder rückbestimmende Entgrenzung des Heiligen, welche in der Geschichte der Philosophie oft heftig bekämpft wurde - obwohl im Grunde die transzendente Dimension des Lebens dabei überhaupt nicht in Frage gestellt ist. Durch die gegenwärtige Umkehrung der Machtverhältnisse zwischen Mensch und Natur ist es jedoch so weit gekommen, dass die ethischen Normen des menschlichen Verhaltens vielleicht bis zu manchen Grundauffassungen der Religion reformiert werden sollten (- und dies hat ja schon begonnen).

Dabei könnte auch der allegorische Inhalt der Catena aurea, als "goldene Kette aller Wesen", zusammen mit einer erweiterten Neubestimmung des Begriffes der Symbiose behilflich sein.

Laut gewissen Publikationen steht die Idee der Symbiose nicht immer in gutem Rufe. Es kommt also erst einmal darauf an, diesen Begriff als modus vivendi zu rehabilitieren: als Alternative zur antinomischen Option der Sympolemie. So könnte die Symbiose als ein Gleichgewicht zwischen Selbständigkeit und Gegenseitigkeit verstanden werden. Gewissermassen ist diese Notwendigkeit schon im französischen, lateinischen und auch englischen Worte für Unabhängigkeit (als Ursache zahlreicher Konflikte!) enthalten: bei "Independenz" ist nämlich immer ein unausgesprochenes "ter" (Erde) gegeben. Durch die gleiche Erde, die wir alle bewohnen, sind wir in Wirklichkeit alle "In(ter)dependent", sprich: gegenseitig zugleich ab- und unabhängig - ob wir es wollen oder nicht! (An der Nichtbeachtung dieser Tatsache, unsere Welt zugrunde gehen könnte.) Deshalb ist es so wichtig, ein Gleichgewicht zwischen Gegenseitigkeit und Eigenständigkeit zu finden.

Bei der Symbio-Biosophie ist eine derartige Bestimmung der Symbiose mit der Idee der Biosophie verbunden - wobei die doppelte Erscheinung des "Lebens" (bios) zu ein und derselben Einheit, als Sym-bio-sophie verschmolzen ist.

Im Rückblick auf Troxlers Elemente der Biosophie, kann man sagen, dass die Grundfrage, welche dieses Buch aufwirft nichts von ihrer Aktualität verloren hat. Zusammen mit dem für ihn vorbildlichen Paracelsus, gilt Troxler als eine der originellsten Gestalten in der Geschichte der Medizin. Goethe, der eine seiner Schriften gelesen hatte (Blicke in das Wesen des Menschen), nannte diese eine der bedeutendsten literarischen Erscheinungen des Jahres wenn sie auch die Köpfe mehr verwirre als zurechtsetze. (4)

Heute erscheint das Risiko einer erneuten Verwirrung der Köpfe geringer als die dabei erhoffte Chance einer fruchtbaren Erweiterung der Debatte: in dieser Hinsicht gibt es nämlich gute Gründe, diese vergessene Idee der Biosophie zu aktualisieren. Unter anderem, weil die Biosophie eine souveränere Betrachtungsweise der Bioethik induzieren könnte. Sie würde sich nicht nur auf die moralischen und rechtlichen Aspekte der Biotechnologien beziehen, sondern auch den gesamten Sozio-Medico-Industrialen Kontext der grundlegenden Forderungen des Lebens auf unserem Planeten hinterfragen.

Durch die Verbindung der beiden Sub-Konzepte der Symbiose und Biosophie ist es möglich, in einem einzigen Wort zu skizzieren, was eine gegenwärtige Naturphilosophie sein sollte. Dabei wird ein umgreifendes Bewusstwerden nur formuliert, weil es ohnehin schon auf dem Wege ist, zu entstehen.

 

III. EIN KLEINER ÖSTLICHER EXKURS

Damit kam es unter den Teilnehmern zu einer lebhaften verbalen Sympolemie (sprich Debatte), so dass der geplante östliche Exkurs gar nicht mehr entwickelt werden konnte - gleich dem nie vollendeten Babylonischen Turm - als Wahrzeichen der Utopie? Dem Turmbau zu Babel entsprechend, soll die vorgesehene morgenländische Reise auch bei dieser Niederschrift für ein anderes Mal aufbewahrt werden. Laut Seneca :

 

"Eleusin servat quod ostendat revisentibus; rerum natura sacra sua non semel tradit." (5)

 

* * *


 

Anmerkungen :

(*) Erschienen in: Zeitschrift für Philosophische Praxis 2/96, Sankt Augustin, Academia Verlag 1996, S. 20-22.

 

(1) Eustathii Commentarii ad Homeri Iliadem, Leipzig, 1828, S. 184. Nach dem hervorragenden Buch von Pierre Lévêque, Aurea Catena Homeri. Une étude sur l'allégorie grecque, Paris, Belles Lettres 1959, S. 17 (Bibliographie: H. Kopp, Aurea Catena Homeri, 1880, u. A.). Hingegen wird man sich fragen dürfen wie der angebliche "Begründer der 'History of Ideas'" (Arthur O. Lovejoy, Die grosse Kette der Wesen, Geschichte eines Gedankens. Übersetzt von Dieter Turck, Frankfurt, Suhrkamp 1993) den homerischen Ursprung dieser Allegorie ignorieren konnte. Wo doch gerade Alexander Pope (auf den er die poetische Formulierung dieses Gedankens zurückführt) erst im Jahre 1720 durch eine Übersetzung der Ilias berühmt wurde! Auch die Gefahr eines totalitären Missbrauchs dieser Idee (durch Übertreibung oder Verderbnis - nach dem vom Autoren selbst angeführten spruch: corruptio optimi pessima) könnte sich mit fast jedem politisch bestimmbaren Unternehmen unserer Zeit, wie zum Beispiel Ökologie oder Sozialismus, aber auch ganz besonders mit den verschiedenen Bereichen der modernen Technik, verknüpfen lassen.

 

(2) Troxler studierte auch bei Hegel, und lernte in dieser Zeit die Meisten Repräsentanten der deutschen philosophischen und literarischen Klassik kennen. Vgl. Klaus Düsing: Schellings und Hegels erste absolute Metaphysik (1801-1802). Zusammenfassende Vorlesungsnachschriften von I.P.V. Troxler, Köln, Jürgen Dinter 1988 (Bibliographie).

 

(3) I.P.V. Troxler, Elemente der Biosophie, s. l. 1807 (Einleitung: Wien im Dezember 1806), S. V-VI.

 

(4) Goethe an Eichstädt 22. Nov. 1812, in: R. Honegger, 'Goethe und Hegel', in: Jahrbuch der Goethegesellschaft, 11. Bd, 78 - 111, Weimar 1925. Nach Peter Heusser, "Troxler und Paracelsus", in Nova Acta Paracelsica, Neue Folge 7, Bern (et al.), Peter Lang 1993, S. 127-144, hier: S. 132.

 

(5) Die Eleusinischen Mysterien bewahren das, was sie nur dem Wiederkehrenden offenbaren / und so gibt auch die Natur ihre heiligen Geheimnisse nicht auf einmal Preis.

Sénèque, Questions naturelles, Tome II, Livres IV-VII, texte établi et traduit par Paul Oltramare, Paris, Belles Lettres 1961, p. 333 (Livre VII, De Cometis, XXX, Les mystères de la nature ne se dévoilent que peu à peu, 6.), 7, 30, 6.



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